Über die Kraft kreativer Projekte - ein Interview mit Sonja Stich und Eva Radünzel

Poetisches Foto-Essay von Lisa Pitz

Fotos sind Auszüge aus meinem Foto-Essay “Ich bin.”, Januar 2023

Mit der Fotografie habe ich eine Leidenschaft, zu meinem Beruf gemacht. Ich möchte diese Leidenschaft pflegen wie einen Schatz - diese Freude, etwas aus vollem Herzen zu tun. Zwischen Business und Auftragsarbeiten - oder gerade dafür - ist es mir wichtig, immer wieder den Raum zu haben, meine Arbeiten zu reflektieren, sie weiterzuentwickeln und neue, kreative Wege zu gehen. Und dabei Perfektionismus und Erwartungshaltungen von außen wie von innen beiseite zulegen.

Deshalb entschied ich mich Ende letzten Jahres den Kurs “Poetisches Foto-Essay” bei Sonja Stich, Eva Radünzel und Sonia Epple von Inspiralab zu buchen. Ich durfte lernen, mich einem Thema kreativ zu nähern, Ideen entstehen zu lassen, Kreativtechniken anzuwenden und stets frei von Wertungen meine Gefühle in Bilder zu übersetzen. So entstand mein ganz persönliches Foto-Essay “Ich bin.”. Zudem habe ich dabei wahnsinnig inspirierende Frauen kennengelernt, die uns im Folgenden über die Kraft kreativer Projekte erzählen.

Eva Radünzel

Während ihres Filmstudiums in Dortmund und Kuba begann Eva, sich mit dokumentarischen Formaten und Erzählweisen auseinanderzusetzen. Im Verlauf ihres Berufslebens als Kamerafrau, entdeckte sie zunehmend ihre Faszination für die Schönheit des Augenblicks, für die Magie der vergänglichen, kurzlebigen Momente. Die Fotografie ist in den letzten Jahren für sie der unmittelbare Weg geworden, die Magie der ungestellten, spontanen Momente einzufangen und durch Fotos erinnerbar zu machen.

Fotocredit: Lisa Lederer

Sonja Stich

Sonja Stich

Sonja ist Dokumentarfotografin, mit Fokus auf die Themen Frauen, Kinder und Familien. Sie lebt zwischen ihrem Heimatland Deutschland und ihrem aktuellen Zuhause in Barcelona, Spanien, und dokumentiert sowohl ihre eigene Familie als auch die Menschen und die Landschaft, die sie umgeben. Ihre Arbeit dreht sich um die menschliche Beziehung zur Natur und zur Familie.

Fotocredit: Eva Radünzel

Gemeinsam habt ihr Inspiralab gegründet. Erzählt doch mal, wie es dazu kam und wofür Inspiralab steht?

Während des Lockdowns 2020 haben wir uns über unsere Fotografie kennengelernt und sind sehr schnell in einen künstlerischen, fotografischen Dialog getreten. Auf diese Weise haben wir über unsere Bilder viel übereinander, unsere Gefühle und Visionen erfahren und dabei gemerkt, dass wir auf einer tiefen Ebene zusammen schwingen. Der Traum, einen Ort zu schaffen, an dem es um Verbindung zur Natur, zu sich selbst und um kreativen Ausdruck geht, ist in uns beiden gereift. Es brauchte unsere Begegnung, um diesen Samen zum Wachsen zu bringen und in Form unseres ersten Retreats 2022 in die Welt zu tragen. Hiermit war der Grundstein gelegt für Inspiralab.

Inspiralab steht für Kreativität. Aus unserer eigenen Erfahrung wissen wir, dass wir in unsere Kreativität vertrauen müssen, um kreativ sein zu können. Das klingt paradox, denn wie soll ich meiner Kreativität vertrauen, wenn ich mich nicht kreativ fühle? In unseren Workshops und Retreats führen wir deshalb die Fotograf:innen über einen persönlichen Zugang zu ihrer eigenen Geschichte und darüber zu ganz persönlichen und individuellen Fotos. Jede und jeder hat eine eigene Geschichte und etwas zu erzählen. Wenn die Geschichte erst einmal bewusst wird, dann fällt es meistens ganz leicht, die richtigen künstlerischen Mittel zu finden, um sie zu erzählen. Bei Inspiralab steht deshalb die Fotografin im Mittelpunkt, nicht ihre Fotos. Inspiralab steht auch für Natur und ein wenig auch für Spiritualität. Denn wir glauben, dass wir verbunden sind, als Menschen untereinander und mit der universellen Kreativität, die sich durch uns, aber auch durch andere Lebewesen ausdrückt. Wir glauben, dass die Natur uns zu uns selbst und unserer Kreativität führen kann. Deshalb halten wir unsere Retreats im Wald und am Meer.  

Wie habt ihr die Bedeutung kreativer Projekte in eurer eigenen Fotografiekarriere erfahren?

Sonja: Mein bisher längstes und umfangreiches Projekt ist das Aufwachsen ohne Schule meiner Söhne zu dokumentieren. Ich habe einfach unser Leben fotografiert, für sie und für mich. Erst später ist mir klargeworden, dass ich die ganzen Jahre an einem Projekt gearbeitet habe. Als meine Kinder später zur Schule gingen, habe ich mir andere Themen gesucht und damit begonnen, meine persönlichen Projekte zu planen. Sie haben mir neue fotografische Möglichkeiten eröffnet, weil ich mit einem Thema im Kopf auf Menschen zugehen und sie fragen konnte, ob ich sie fotografieren darf. Ich bin an neue Orte gekommen, habe begonnen, Erwachsene zu porträtieren, was ich ohne die Intention nicht gemacht hätte. 

Eva: Kreative Projekte haben für mich etwas Beflügelndes und Befreiendes, da ich dabei nur für mich fotografiere, ohne an den Betrachter zu denken. Dadurch kann ich viel mutiger und experimentierfreudiger arbeiten und die Möglichkeiten der Fotografie und des kreativen Ausdrucks für mich erforschen.

Wie können kreative Projekte dabei helfen, die eigene fotografische Stimme zu entwickeln und den Stil als Fotograf:in zu definieren?

Sonja: Ich glaube, es ist gut, ab und zu für ein kreatives Projekt zu fotografieren, weil man sich dann eher darüber klar wird, was einen künstlerisch und inhaltlich interessiert. Gerade als Auftrags-Fotograf:in mit künstlerischem Anspruch ist es wichtig, auch mal ganz frei zu fotografieren und sich nur davon leiten zu lassen, was man selber zeigen möchte. Einen visuellen fotografischen Stil kann man meiner Meinung nach auch ohne Projekte entwickeln, auch in Kunden-Sessions. Aber eine Stimme nur dann, wenn man etwas zu sagen hat. Dafür sind persönliche Projekte toll, man kann und muss vom Thema bis zur kreativen Umsetzung alles selber entscheiden. Für ein persönliches fotografische Projekt zu fotografieren ist wie einen Roman, ein Gedicht oder ein Musikstück zu schreiben. Um einen eigenen Stil und eigene Stimme zu entwickeln, ist es wichtig, viel zu fotografieren. Da ich sehr wenig für Kund:innen fotografiere, helfen mir meine kreativen Projekte dabei, die Kamera öfter in die Hand zu nehmen. Seit ein paar Jahren mache ich auch aus meinen Urlauben fotografische Projekte. Anstatt, wie früher, alles zu dokumentieren, was wir unternehmen, fotografiere ich jede Reise mit einem Thema, das mir manchmal schon vorher klar ist und sich manchmal erst unterwegs zeigt.

Eva: Lange habe ich gedacht, dass ich meine fotografische Stimme erst noch entwickeln muss. Doch dann habe ich gemerkt, dass sie schon da ist. Denn in dem Moment, in dem ich frei und spielerisch fotografiert habe, war ich so sehr mit mir verbunden, dass sich meine künstlerische Stimme auf ganz intuitive Weise gezeigt hat. Mir den Raum und die Zeit zu geben, nur für mich zu fotografieren, hat mir Türen in mein Inneres geöffnet und einen Schatz freigelegt, auf den ich jetzt immer zugreifen kann.

Inwiefern können kreative Projekte dazu beitragen, Fotograf:innen aus ihrer Komfortzone herauszubringen und neue fotografische Fähigkeiten zu entdecken?

Sonja: Ich glaube, wenn man ein persönliches kreatives Projekt wirklich in aller Tiefe bearbeiten möchte, dann muss man sich mit sich selbst auseinandersetzen und sich Fragen stellen, die man sonst vielleicht verdrängen würde. Warum interessiert mich dieses Thema so? Was hat das mit meiner Biografie zu tun? Man muss auch offen sein und sich vom Projekt führen lassen, denn irgendwann beginnt es zu leben und eigene Wege zu gehen. Irgendwann kommt man an einen Punkt, wo es nicht mehr reicht, etwas abzubilden. Man muss Metaphern finden für etwas, das man nicht zeigen kann. Oder man muss die Realität verfremden, damit sie der eigenen Wahrnehmung näher kommt. 

Eva: Wenn man irgendwann mal gemerkt hat, was man besonders gut kann, liegt es nahe immer wieder genau das zu tun, von dem man weiß, dass es funktioniert und wofür man Anerkennung bekommt. Sich aus seiner Komfortzone zu bewegen und etwas anderes zu tun als das Gewohnte, kann sehr befreiend sein. Oft fühlt es sich am Anfang schwer an oder man fühlt sich unkreativ. Aber wenn die Blockaden gelöst sind und die Kreativität frei fließen kann, ist es wie ein Tanz, der belebt und glücklich macht.

Kreative Projekte definieren sich oft durch einen gewissen Grad an Experimentierfreude. Könntet ihr uns von einer besonderen Technik oder Herangehensweise erzählen, die ihr in solchen Projekten gerne anwendet?

Sonja: Meine kreativen Projekte sind technisch ganz unterschiedlich und bei keinem wusste ich vorher, welche experimentelle Technik ich anwenden würde, sie hat sich immer aus dem Projekt ergeben. Für die Ausstellung El Crit del Bosc über einen durch elektrische Leitungen gefährdeten Wald und seine Bewohner, habe ich Folien in knalligen künstlichen Farben vor mein Objektiv gehalten, um zu zeigen, dass hier etwas passiert, das nicht zum Wald gehört. Dies war meine Methode, zu zeigen, was man nicht sehen kann: den Starkstrom, der das Leben bedroht. Bei einem persönlichen Projekt, das ich nach dem Tod meines Vaters fotografiert habe, habe ich fast nur starke Hell-Dunkel-Kontraste in der Dämmerung fotografiert und mit Doppelbelichtungen gearbeitet, um die Intensität meiner Gefühle auszudrücken. Ich glaube, es ist schwierig, von einer Technik ausgehend zu fotografieren. Das Thema führt irgendwann zu einer experimentellen Technik – oder auch nicht, wenn es besser zum Thema passt. 

Eva: Für mich war die Entdeckung der Mehrfachbelichtung wie ein Tor zu einer neuen Welt und gleichzeitig eine Brücke zu meiner Ausbildung als Kamerafrau und der Arbeit mit bewegten Bildern. In der Fotografie liebe ich, die Geschichte nicht nur in einer linearen Abfolge von Bildern zu erzählen, sondern einem einzelnen Bild durch das Hinzufügen einer oder mehrerer Ebenen eine Bedeutung oder ein Gefühl hinzuzufügen. Die Doppelbelichtung ist für mich wie ein Film in einem einzigen Foto, in dem ich als Betrachter wandeln darf, um immer wieder Neues zu entdecken. Neben der Mehrfachbelichtung nutze ich gerne das Diptychon, um Dinge miteinander zu kombinieren und in Beziehung zueinander zu setzen.

Wie geht ihr vor bei einem eigenen kreativen Projekt? Habt ihr Tipps zu Herangehensweisen?

Sonja: Ganz viel fotografieren, am besten jeden Tag. Besonders, wenn man als Auftragsfotograf:in arbeitet, sollte man nicht vergessen, auch für sich selber zu fotografieren. Oft entwickeln sich kreative Projekte beim Fotografieren. Irgendwann zeigt sich ein Muster, ein Thema, eine Vorliebe.

Eva: Ganz wichtig ist bei einem eigenen Projekt die Intention und das Thema. Wenn ich weiß, wofür ich Bilder suche, zeigen sich die Motive häufig wie von Zauberhand. Denn wenn mein Fokus klar ist, sehe ich meine Umgebung mit anderen Augen, in einem Kontext meiner Geschichte. 

Kreative Projekte erfordern oft Engagement über einen längeren Zeitraum. Wie motiviert ihr Euch, um kontinuierlich an einem solchen Projekt zu arbeiten?

Eva: 2020 habe ich ein 365-Tage-Projekt gemacht. Jeden Tag ein Foto, mehr nicht. Keine inhaltlichen Vorgaben, völlige Freiheit. Künstlerisch hat es mich extrem weitergebracht, viel zu fotografieren. Was mir bei Langzeitprojekten und Projekten im Allgemeinen hilft, ist der Austausch mit anderen. Mein 365-Tage-Projekt habe ich zusammen mit anderen Fotografinnen in einer Facebookgruppe realisiert. Bei vielen anderen Projekten war es Inspiration und Motivation, mich mit Sonja auszutauschen. Mein Tipp: suche dir eine fotografische Freundin oder einen Freund, deren Stil du magst und deren Meinung dir wichtig ist. Verabredet euch online oder telefonisch für Brainstorming, Bildauswahl und Edition. Der Blick von Außen ist so wertvoll und bereichernd, und feste Verabredungen helfen dabei, dranzubleiben.

Wie verhält sich die Bedeutung kreativer Projekte in der Fotografie zu anderen Aspekten wie technischen Fähigkeiten oder Ausrüstung?

Eva: Die technische Ausrüstung spielt bei der Realisierung kreativer Projekte keine primäre Rolle, aber je besser ich meine Kamera und ihre kreativen Möglichkeiten kenne, desto größer und vielfältiger sind meine Ausdrucksmöglichkeiten. Man könnte es mit einem erweiterten Wortschatz vergleichen, mit dem ich leichter erzählen kann, was mir wichtig ist.

Welche Auswirkungen haben kreative Projekte auf Eure Sichtweise auf den Alltag und die Umgebung um Euch herum?

Eva: Wenn ich an einem Projekt arbeite, sehe ich überall im Alltag Hinweise und Botschaften, die zu meinem Thema passen. Jeder Schatten und jeder Lichteinfall erzählen mir etwas. Ich sehe Dinge, die ich sonst nicht sehen würde, da ich alles in einem konkreten künstlerischen Kontext wahrnehme.

Kreative Projekte können oft eine Verbindung zwischen Fotografie und persönlichen Erfahrungen herstellen. Gibt es eine besondere persönliche Geschichte oder Erfahrung, die Euch zu einem bestimmten Projekt inspiriert hat?

Sonja:  Alle meine Projekte entstehen aus persönlichen Erfahrungen oder Themen, die mich beschäftigen, wie die Projekte, über die ich weiter oben schreibe.

Eva: Oft fotografiere ich einfach so für mich, wenn ich starke Emotionen empfinde, denn die Fotografie hilft mir, diese zu erkennen und zu verarbeiten. In diesen Bildern, die rein intuitiv entstanden sind, sehe ich häufig einen Spiegel von inneren Prozessen und Themen, die mich schon manches Mal zu einem freien Projekt inspiriert haben. Im Moment fotografiere ich an einer Serie zur Nacht, da sich dieses Thema wie ein roter Faden durch meine Arbeit zieht. Zur Intuition hat sich die Intention gesellt, die mich seitdem begleitet und leitet.

Website Inspiralab

Instagram Profil Inspiralab

Danke Euch Sonja und Eva von Herzen!

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